Die meisten Christen kennen den lateinischen Begriff nicht. Doch das damit Gemeinte – wörtlich übersetzt heißt es „göttliche Lesung“ – gehört ganz wesentlich zur christlichen Tradition und ist damit nicht so unbekannt. Es geht um ein aufmerksames, betendes, meditierendes und kontemplatives Lesen der Heiligen Schrift. Es entspricht, als persönliches Gebet wie kaum ein anderes, dem Wesen des Menschen, ist aber heute nicht ganz so einfach zu praktizieren. Warum? Es bedarf dafür – ja, genau: eines einfachen Herzens. Und das fehlt uns oft.
“Einfaches Herz” meint nicht Simplizismus, Unwissenheit oder Naivität, schon gar nicht Fundamentalismus. Es ist eher „Unkompliziertheit“. Ein unkomplizierter Mensch, frei von Hintergedanken, Zwängen und Berechnungen, kann sich offen auf Beziehung einlassen. Und genau darum geht es: um Beziehung – um das Hören auf Den, der uns liebt, um das Schmecken dessen, was er uns gesagt hat, um das Antworten darauf, um das Sein bei ihm. Damit das ungestört möglich ist, sind gewisse Grundkenntnisse zum Verständnis der Heiligen Schrift unverzichtbar. Ohne diese Kenntnisse würden wir uns unnötig aufhalten an Stellen, die einfach nur zeitbedingt sind und sich nicht auf Wesentliches beziehen – ganz abgesehen von Gefahren, die ein falsches Verständnis auch auslösen kann. Diese Missverständnisse müssen nicht sein. Es war nie so leicht wie heute, an grundlegende Bibelkenntnisse zu kommen. Schwieriger mag die Unterscheidung sein, was wirklich gut und hilfreich ist auf dem unübersehbaren Markt biblisch-theologischer Literatur. Aber auch dazu gibt es Hilfe, etwa beim Katholischen Bibelwerk, das sich in den letzten Jahren in erfreulicher Weise modernisiert und dem breiten Volk geöffnet hat, oder in den Diözesanstellen für Geistliches Leben der Bistümer.
Doch biblische Grundkenntnisse sind in der Lectio Divina nur die Voraussetzung, um auf die Spur zu kommen – vielleicht so etwas wie der Zugang zu einer Tür. Die Tür selbst ist die konkrete Praxis des Lesens, Betens und Meditierens, während der Raum, in den der Beter durch diese Tür eintritt, die Dimension des inneren Angesprochen-Seins durch Gottes Wort ist bzw. was daraus erwächst.
Dieser Blog möchte versuchen, zur Gebetsform der Lectio Divina einzuladen und zu ermutigen. Nicht durch Belehrungen, sondern durch Teilen.
Nur ganz kurz möchte ich die einzelnen Elemente der Lectio Divina beschreiben, so wie wir sie aus der christlichen Tradition kennen. Sie gehen in dieser „systematischen“ Darstellung auf Guigo, den Kartäuser, zurück. Er beschreibt die einzelnen Elemente als Treppenstufen oder Sprossen einer Leiter, aber wem diese Bilder zu „männlich-aufstiegsorientiert“ sind, kann die einzelnen Elemente auch als Räume in einer Wohnung (Teresa von Ávila) oder Momente in einer Begegnung (Mechtilde de Bar) sehen. Egal, welche Bilder wir wählen – ob Sprossen, Räume oder Momente – sie müssen nicht streng der Reihe nach erfolgen. Es kann auch hin und her, vor und zurück gehen.
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