Gnade und Wahrheit

Johannes legte Zeugnis für ihn ab und rief:

Dieser war es, über den ich gesagt habe:

Er, der nach mir kommt,

ist mir voraus,

weil er vor mir war.

Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,

Gnade über Gnade.

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben,

die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus.

Niemand hat Gott je gesehen.

Der Einzige, der Gott ist

und am Herzen des Vaters ruht,

er hat Kunde gebracht.

(Joh 1,15-18)

.

Da ist er wieder – der Vermittler Johannes (der Täufer). Er spricht von dem, der „nach“ ihm kommt. Ein halbes Jahr nur sind die beiden Verwandten auseinander, Jesus und Johannes, aber Jesus, den Johannes meint, ist eben der Jüngere. Johannes, noch an der Schwelle vom Alten zum Neuen Testament, führt ihn vermittelnd ein, stellt ihn  der Öffentlichkeit vor mit den Worten: „Der nach mir kommt, ist mir voraus“.

Aber er ist ihm nicht voraus, weil er tüchtiger, größer, schlauer, schneller wäre, sondern, „weil er vor mir war“. Für uns Christen ist klar, was er damit meint: In Jesus ist Gott selbst Mensch geworden. Daher ist Jesus als Mensch zwar jünger als Johannes, als Gott aber ist er das Sein schlechthin, das Leben in Fülle in Person.

Doch er behält es nicht für sich:

Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.“

Was heißt das?

Fülle: überfließendes Leben, göttliches Leben.

Gnade: bedingungslose Annahme des Menschen.

Alle haben wir von dieser Art der Fülle empfangen, weil wir alle von ihm geliebt werden. Es ist nicht materielle Fülle, nichts, was man zählen und anhäufen kann. Es ist Fülle der Liebe.

Aber um etwas von dieser Fülle erahnen zu können, braucht es eine Vorbereitung. Ich kann ein Gefäß nur füllen, wenn ich es zuvor in die Hand nehme und seine Leere registriere.

Dem diente das „Gesetz“ des Mose: dem Registrieren unserer Leere, unserer Grenzen, unserer Bedürftigkeit. Dem dient letztlich alles Bemühen um das Ordnen unseres Lebens, auch wenn es nicht so beabsichtigt ist. Natürlich dienen die tausend Gesetze und Vorsätze, die wir uns geben, der Ordnung, dem gelingenden Zusammenleben, und bis zu einem gewissen Grad kann das ja auch gelingen. Aber irgendwann trifft unser Blick in die innere Leere, die durch noch so perfektes Ordnen und Gestalten nicht gefüllt werden kann. Es ist nicht eine Leere, die wir mühsam „produzieren“ durch meditative Versenkung, auf die wir fast schon ein bisschen stolz sein könnten, sondern eine, die längst zu uns gehört, die wir aber erst nach und nach entdecken: einfach deswegen, weil wir in unseren Bemühungen an Grenzen stoßen.

Wäre es dann nicht besser, sich gar nicht erst zu bemühen? Aber dann würden wir die Grenzen gar  nicht wahrnehmen. Wer zum Beispiel andere hasst, wird es erst dann merken, wenn er versucht, sein Verhalten zu ändern. Vorher wird er seine Haltung und sein Tun immer nur rechtfertigen, und die anderen sind „die Bösen“. Beim Bemühen um Veränderung stößt er aber an seine Grenzen und merkt schmerzlich, wie leer er ist und wie wenig er sich selber füllen kann – eigentlich gar nicht. Dieses Entdecken – sofern er es zulässt – wirft ihn der Fülle der Liebe Gottes in die Arme, aus der wir alle empfangen haben.

Gnade, die Dich annimmt und Dich neu auf den Weg stellt,
Wahrheit, die Dir Halt und Geborgenheit gibt,
Wahrheit der Liebe.

Liebe, die nicht Gefühl oder Stimmung,
sondern eben Wahrheit ist.

Liebe, die nicht Belohnung,
sondern Wahrheit ist.

Liebe, die sich nie empört abwendet,
sondern Gnade und Wahrheit ist.

Liebe, die einen Namen trägt:

Jesus Christus.

Liebe, die Gott ist,
am Herzen des Vaters ruht,
und uns von sich erzählt.

 

 

 

 

 

 

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